This document is part of the Ocean Girl Archive — Last update: 2009-02-15 — source — meta
Ein Tag in naher Zukunft…
Die kleine Insel, die unter ihnen vorbeirauschte, lag in der schimmernden See des Great Barrier Reef.
„Hey! Habt ihr das gesehen?“
Jason musste schreien, um das Rattern der Helikopterrotoren über ihnen zu übertönen. Der Pilot schob sich den Kopfhörer etwas beiseite und blickte über die Schulter hinter sich.
„Was gibt’s?“
„Ich glaube, ich habe etwas auf einer Lichtung dort hinten gesehen. Als ob da jemand in den Dschungel gerannt wäre.“
Der Pilot grinste so, wie es Erwachsene immer taten, wenn sie dich wie einen Idioten behandelten. Weil er vierzehn Jahre alt war, hatte er solche Blicke schon oft gesehen.
„Ich glaube, du brauchst ’ne Brille, Kleiner! Alle diese Inseln sind unbewohnt. Sind es immer gewesen. Viel zu weit vom Festland weg als dass jemand hier leben wollte. Ihr Leute vom ORCA-Institut werdet hier draußen ganz unter euch sein.“
Jason verzog das Gesicht. „Na toll“, brummte er und seufzte, „Mist!“
Mom drehte sich um und gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. Sie sagte immer, das sei nicht böse gemeint, aber manchmal tat es wirklich weh.
Doch jetzt, wo sie keinen Ehering mehr an der Hand trug, war es nicht mehr ganz so schlimm.
„Ach hör’ doch auf, Jason“, sagte sie. „Wo ist dein Sinn für Abenteuer?“
„Yeah. Das wird cool!“ pfiff Brett dazwischen. Das war typisch für seinen jüngeren Bruder. Mit einem Alter von zehn Jahren freute Brett sich noch über alles und jeden, egal wie öde der Platz war, zu dem Mom sie wieder hinschleppte.
„Übertreib’ mal nicht!“ erwiderte Jason, „Wir hängen am Ende von Nirgendwo mit ein paar klugscheißerischen Wissenschaftlern fest. Das nennst Du Abenteuer?“
„Hm, ich beneide euch Jungs wirklich“, meinte der Pilot. „Richtig am Meeresboden zu leben! Ich würde alles für einen Platz an Bord von ORCA geben.“
„Gut, sie können meinen gerne haben“, murmelte Jason während er sich zurück in in seinen Sitz fallen ließ um weiter trübsinnig aus dem Fenster zu starren. Vor ihnen erstreckte sich der Ozean bis zum Horizont, nur hier und dort unterbrochen von kleinen Inselflecken wie die eine, die sie gerade überflogen hatten. Er blickte zurück während sie schnell kleiner wurde. Merkwürdig.
Einen Moment lang war es ihm tatsächlich so vorgekommen, als hätte er jemanden gesehen. Nur den flüchtigen Eindruck einer kleinen Gestalt, die da stand, auf sie hinaufstarrte und dann schnell im Dickicht verschwand.
Nein, entschied er. Das konnte nicht stimmen. Und er verdrängte es aus seinen Gedanken.
Neri verließ den Schutz der Fahnensträucher des Regenwalds und wagte sich zurück auf die Lichtung. Sie sah der fliegenden Maschine ängstlich, aber auch fasziniert hinterher. Das Dröhnen ließ nach während sie zu einem Punkt zusammenschrumpfte und aus der Sicht verschwand. Das war knapp. Obwohl sie die Maschinen fast jeden Tag im Himmel sah seit die Fremden begonnen hatten, das merkwürdige Ding ins Meer zu bauen, flogen sie selten direkt über ihre Insel hinweg. Deshalb hatte es sie diesmal völlig überrascht. Sie durfte diesen Fehler nie wieder machen.
Seit dem Tag, an dem sie allein war, hatte sie entschieden, dass die Fremden nichts über sie wissen durften.
Oder über den Riesen im Ozean. Jali. Ihren Freund.
„Oh je, diesmal hat sie es wirklich geschafft“, zischte Jason aus seinem Mundwinkel. „Was ist das hier, die Teufelsinsel?“
Der Helikopter hatte sich über ihre Köpfe erhoben und drehte bereits wieder zurück in Richtung Festland. Sie standen da mit einem Durcheinander von Gepäck und Koffern, die sich um ihre Füße herum stapelten, und hielten immer noch ihre Kappen gegen den starken Luftdruck der Rotoren.
Jason beobachtete die Situation mit Grauen. Es war noch schlimmer als er es erwartet hatte. Auf dem Festland hatte Mom es so beschrieben als sei ORCA nach Disneyland der beste Ort überhaupt. Wo sie jetzt gelandet waren, war eine riesige, häßliche, graue Plattform aus Metall, die hier ganz allein inmitten des endlosen Ozeans lag. Boote verschiedener Größen lagen an den Längsseiten verankert. Die einzige Sache, die die langweilige Flachheit der Plattform selbst unterbrach, war ein langes rundes Gebilde in der Mitte.
Auf der Vorderseite war ein Symbol angebracht und man konnte die Worte OCEANIC RESEARCH CENTRE (AUSTRALIA) lesen.
Mom ging darauf zu und war richtig entzückt.
„Ich will nur eins, so schnell wie möglich wieder von hier weg!“ flüsterte Jason zu Brett.
„Solche Bemerkungen will ich nicht hören, Jason“, sagte Mom ohne sich umzudrehen. Ihre Stimme war ruhig, aber es war ein warnender Unterton darin.
Sie wurden von einem leisen Zischen unterbrochen. Eine Tür öffnete sich an der Seite des großen Zylinders in der Mitte. Eine Gestalt kam heraus, ein kleiner, munterer Mann, dessen breites Grinsen dunkle indische Gesichtszüge zeigte. Er war mit einer blauen Uniform bekleidet, deren Brusttasche mit dem ORCA-Emblem geschmückt war.
„Dr. Bates“, begrüßte er Mom. „Wie war der Flug?“
„Fantastisch, Winston.“ Sie zog die Jungen nach vorne. „Kommt her, das ist mein neuer Assistent Dr. Seth.“
„Jason?! Brett?! Richtig?“ vermutete er korrekt. „Willkommen auf ORCA!“
„Ja“, antwortete Jason eintönig, „sie sind uns auch willkommen, Doktor.“
Winston warf einen Blick auf Jason, eine Augenbraue richtete sich auf, bevor er in den Gepäckhaufen tauchte und begann, sich selbst mit den Taschen zu beladen. Brett eilte ihm zur Hilfe. Sie fingen an, es in Richtung der offenen Tür der Röhre zu tragen.
Währenddessen gesellte sich Winston zu Jason. „Jason“, sagte er leise, „weißt Du, was die Japaner sagen? Der Karpfen schwimmt lächelnd nach oben, denn er sah in der Tiefe die Wunder.“ Und er deutete unter ihre Füße.
„Was soll das bedeuten?“ entgegnete Jason.
„Das weiß ich nicht! Ich komme aus Indien!“ sagte Winston mit einem hochtönigen Kichern während er sie durch den Eingang führte.
Sie befanden sich in einem runden Aufzug mit einer großen Sitzfläche, die fast an der ganzen Wand entlang lief. Winston legte das Gepäck ab, das er getragen hatte und fischte eine Hand voll Plastikkarten aus seiner Tasche. Er hielt sie abwechselnd über ein Sensorfeld neben der Tür. Nach jeder einzelnen gab es einen Piepton und es blitzten die Worte SICHERHEITSFREIGABE auf einem Bildschirm über ihnen auf.
„Eure Ausweise“, erklärte Winston während er sie verteilte. „Ihr müsst sie ständig bei euch tragen. Ohne sie kommt ihr weder rein noch raus.“
Brett’s Augen glänzten vor Aufregung, als er die Karte an seinem Shirt befestigte. „Dr. Seth“, fragte er, „stimmt es, dass da unten eine ganze Stadt ist?“
„Na ja, eher ein großes Dorf würde ich sagen, Brett. Aber es gibt dort eigentlich alles, was wir brauchen.“ Er nahm den Sitzplatz ein, als die Tür begann, sich zu schließen.
„Gibt es hier ein McDonald’s?“ fragte Jason.
Winston blinzelte überrascht. „Nein“, gab er zu.
Jason gab Brett einen Schubs. „Ich hab’s dir ja gesagt“, ächzte er. „Das ist genauso gut, als wären wir zurück in die Steinzeit gereist.“
Mit einem sanften Summen begann die Fahrt nach unten.
Neri kniete inmitten des Regenwaldes auf dem Boden, riss junge Süßkartoffeln aus dem Boden und aß sie.
Dann plötzlich hörte sie den Ruf. Schwach, vom Meer aus. Ihr Freund kam gerade. Sie stand auf und wand sich, noch beim Kauen, in Richtung des Strandes.
Die Türen des Aufzuges öffneten sich.
„Willkommen an Bord der ORCA-Meeres-Forschungststation“, sprach eine weibliche Roboterstimme, die aus Lautsprechern über ihnen kam. „Alle neuen Besatzungsmitglieder bitte zum Kabinenzuweisungs-Terminal, das sich direkt links befindet.“
„Das ist HELEN, unser Hauptcomputer“, erklärte Winston während sie begannen, ihr Gepäck herauszuschieben. „Kurz für ?Hydro Electronic Liaison Entity Number 3000?. Sie ist wirklich der Boss hier. Aber erzählt dem Commander nicht, dass ich das gesagt habe“, fügte er mit einem nervösen Kichern hinzu.
In der Nähe stand ein Modell des ORCA-Komplexes in einer Glasvitrine, die Modulblöcke mit Verbindungsröhren sahen aus wie eine Zusammensetzung merkwürdiger, mit Armen verbundener, gigantischer Muscheln am Meeresgrund. Winston führte sie daran vorbei zu einem weiteren Sensorfeld, das aus der Wand hervorragte und sagte ihnen, sie sollten ihre ID-Karten darauf legen.
„Bitte warten sie, während die Einzelheiten ihrer Kabinen überprüft werden.“ Es war die gleiche mechanische Stimme, doch diesmal kam sie aus einem Lautsprecher an der Wand.
Jason und Brett ließen den sie umgebenden Schauplatz auf sich einwirken während sie warteten. Sie waren in einer großgewölbigen Empfangshalle, von wo aus tunnelähnliche Korridore in jede Richtung zu führen schienen. Der Anzahl von Leuten nach zu urteilen, die ständig vorbeikamen, war es sicherlich eine Art von zentralem Knotenpunkt. Viele waren erwachsen, aber es schien auch ziemlich viele Kinder aus verschiedenen Altersklassen zu geben.
Alle trugen Uniformen, die prominent das ORCA-Symbol zur Schau stellten.
„Bates… Dr. Dianne Elizabeth… Jason David… Brett Michael“, fuhr die Stimme fort. „Aufenthalt stattgegeben. Modul Lima, fünfte Etage, Kabine Vierzehn. Ich wünsche ihnen einen schönen Tag.“
Winston begann, sie in Richtung einer der Tunnel zu führen, doch hielt an, um einen großen, adlergesichtigen Mann mit einem goldenen Band an der Uniform anzusprechen.
„Ah, Commander Lucas! Darf ich ihnen Dianne Bates vorstellen? Sie ist eine Koryphere in der Meeresbiologie. Ihr Spezialgebiet ist Verhaltensforschung.“
„Doktor“, sagte der Mann und nickte Mom zu. Doch seine Augen waren fest auf Jason und Brett fixiert. „Gehören die beiden zu ihnen?“
„Ja, es scheint so.“
Er starrte sie an. „Dann gestatten sie mir, ihre Söhne noch auf eines hinzuweisen. Das hier ist kein Kindergarten oder Spielplatz. Befolgt die Anordnungen, macht keinen Unsinn, dann habt ihr auch keinen Ärger. Das wär’s dann.“ Er nickte wieder kurz in Mom’s Richtung, bevor er sich umdrehte und wegging.
„Na großartig!“ stöhnte Jason, als sie ihren Weg fortsetzten. „Wir sind hier auf der Bounty bei Captain Bligh.“
Sie folgten durch eine Reihe von leicht gekrümmten, engen Korridoren und Aufzügen, die per Sprachsteuerung funktionierten. An einer Stelle whichen die grauen Metallwände dickem, drucksicherem Glas und sie fanden sich in einem Beobachtungstunnel wieder, von wo aus sie auf den Meeresboden schauen konnten, der sich vor ihnen ausstreckte. Der ORCA- Komplex, ständig von großen Lichtbänken beleuchtet, war auf der Kante des Kontinentalschelfs gebaut worden, jenseits der alles in einer ewigen Dunkelheit verschwand.
Die Kabine war klein, schrecklich klein. Kaum die Größe des kleinen Arbeitszimmers, das Dad zu Hause hatte, als sie noch alle noch zusammengelebt hatten. An einer Wand war eine Zelle von der Größe einer Telefonzelle, die eine Toilette darzustellen schien, bis Jason versuchte, den Spühlknopf auf der Bedienungsfläche zu finden. Er kam prustend und vor Nässe triefend heraus, um den anderen schließlich mitzuteilen, dass es gleichzeitig auch die Dusche war, scheinbar von einem Idioten erdacht.
An einer anderen Wand stand ein riesiger Bildschirm, den Winston als das interne Kommunikationssystem erläuterte. „Wenn ihr mit eurer Mutter in unserem Labor sprechen wollt — oder wenn sie mit euch sprechen will — müsst ihr nur die Nummer eingeben und ihr könnt mit ihr mit Bild telefonieren“, sagte er voller Enthusiasmus. „Obwohl ihr natürlich die Bildübertragung abstellen könnt, so dass sie nicht sehen kann, was für einen Unfug ihr in Wirklichkeit gerade treibt.“ Er wollte es gerade demonstrieren, aber die Jungen erkundeten bereits die Schlafzimmer. Je eines lag an einer Seite.
Sie sahen völlig gleich aus. Ein Etagenbett, kein Platz für viel mehr. Da eine für Mom sein musste, bedeutete es offensichtlich, dass sie teilen mussten.
Zwei nebeneinanderliegende ORCA-Uniformen, noch in Plastik verschweißt, bestätigten es.
Mom folgte ihnen zum Eingang.
„Hier, ihr müsst eure Uniformen anziehen“, sagte sie fröhlich.
Brett hatte seine bereits ausgepackt, aber Jason drehte sich trotzig um.
„Vergiss es. Also ich werd’ hier nicht rumlaufen wie auf ’nem Kostümfest, ausgeschlossen.“
„Befehl, Jason“, sagte sie mit diesem Blick in ihren Augen, der bedeutete, dass sie es ernst meinte. „Und dann können wir alle zusammen hoch gehen, während Winston mir unser neues Labor zeigt.“
Brett stolzierte tatsächlich umher, um Mom sein Outfit zu zeigen, als Jason plötzlich rauskam und widerwillig die Baumwollhose und das T- Shirt mit dem ORCA-Symbol trug.
Winston hatte Neuigkeiten für Dianne, während er sie durch die Tür führte. „Ich denke, ich habe unser Versuchstier bereits geortet. Ein großer Buckelwal, der hier in der Gegend rumschwimmt, seit ich unsere Ausrüstung aufgestellt habe.“
Jason konnte sehen, wie Mom’s Augen vor Aufregung leuchteten. Komisch. So war sie immer, wenn es um ihre Arbeit ging, aber fast nie, wenn etwas zu Hause passierte. Vielleicht war das der Grund dafür, dass Dad…
„Macht euch keine Sorgen. Neuankömminge brauchen immer ein paar Tage, um sich einzuleben, aber ihr werdet euch dran gewöhnen.“ Er bemerkte, dass Winston zurückgekommen war und sich neben ihn stellte.
„Ich habe gar nicht vor, so lange zu bleiben, dass ich mich dran gewöhne“, antwortet Jason und schaute ins Leere, „und ich habe ganz bestimmt nicht darum gebeten, mitkommen zu dürfen. Ich bin nur mitgeschleppt worden, um euch einen Wal zu fangen.“
Neri stand am Strand und starrte auf das Meer.
Plötzlich schimmerte das Wasser an der Mündung der Bucht vor ihr, dann durchbrach Jali’s riesiger Körper die Oberfläche und ein sprühender Wasserschwall spritzte durch die Luft. Sie hörte seine Stimme in ihrem Kopf singen.
Ich bin zurück, Neri.
Sie lief ins Meer und tauchte unter. Ein, zwei, drei kräftige Züge und sie glitt mit hoher Geschwindigkeit durch die Korallenschwärme. Sie tauchte neben dem riesigen Kopf auf und legte eine Hand unter sein Auge, streichelte ihn zur Begrüßung.
Komm her. Zeit zum Spielen, sang er und begann zu tauchen. Neri wartete, bis er fast ganz abgetaucht war. Nur noch seine Schwanzflosse blieb über Wasser und türmte sich über ihrem Kopf auf. Dann tauchte auch sie.
Seine gigantische Schwanzflosse wirkte riesig verglichen zu ihren kleinen Füßen als beide unter die Oberfläche glitten. Dann drehten beide gemeinsam auf das offene Meer.
Diese Nacht lag Jason im Bett und hörte Bretts gleichmäßigen Atmen aus dem Bett unter ihm zu. Manchmal fragte er sich, ob Mom nicht eine kleine Schraube locker hatte. Er wusste, dass Buckelwale unter Wasser zusammen sangen. Jeder wußte das. Aber sie hatte diese Idee, dass, wenn man den Gesang und die Hirnwellen eines Wales zur gleichen Zeit aufzeichnen würde, man schließlich herausfinden könnte, warum Wale bestimmte Laute von sich gaben. Früher oder später könnte man dann ihre Sprache verstehen.
„Wer weiß, Jason“, hatte sie einmal gesagt. „Eines Tages werden wir vielleicht tatsächlich mit ihnen reden können.“
Das war die verrückte Idee, der sie es zu verdanken hatten, jetzt für sechs Monate in diesem Loch gefangen zu sein.
Jason seufzte und drehte sich um, um einzuschlafen. Leute, die mit Walen reden, dachte er schläfrig. Ja, sicher Mom. In deinen Träumen.
In deinen Träumen.