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This document is part of the Ocean Girl Archive — Last update: 2009-02-15 — sourcemeta

Author:Peter Hepworth
Published:1994-01-01
Archived:2008-05-08

3. Der Sturm

„He, du hast doch niemandem etwas gesagt?“ Jason hielt Brett am Arm fest, als sie gerade die Schule betreten wollten, eine größere Kabine voller Computerbildschirme, die ihnen als Klassenraum diente.

„Hä?“

Jason reduzierte seine Stimme auf ein Flüstern. „Na darüber, was ich gesehen habe, du weißt was ich meine. Ich will nicht, dass die ganze Welt denkt, ich sei verrückt. Du hast doch nicht etwa deinen kleinen, hinterhältigen Freunden davon erzählt, oder?“

Brett’s Augen offenbarten einen unschuldigen Blick. „Hey, ich bin dein Bruder, Jace. So etwas würde ich nie tun!“

In dem Moment, als sie durch die Tür gingen, wurden sie von Gelächter und Geschossen bombardiert. Bälle aus zusammengeknüllten Computerpapier regneten auf Jason nieder und Pfiffe tönten durch die ganze Klasse.

„Hey, Bates, heute schon ’ne Meerjungfrau gesehen?“

„Warum hast du ihre Schwester nicht gleich für mich mitgebracht?“

„Ich bestell’ mir eine als Schlemmerfilet für einen Dollar!“

Jason starrte Brett zornig an. „Dafür wirst du bezahlen“, sagte er grimmig.


Wie sich herausstellte, rächte nicht er sich an Brett. Es war Vanessa Lane, die das tat, und zwar aus einem gänzlich anderen Grund.

Vanessa war eine dieser sommersprossigen, rothaarigen Mädchen, die sich aufführten, als ob es eine Ehre wäre, die gleiche Luft wie sie atmen zu dürfen.

Sie war erst drei Tage lang an Bord von ORCA, aber es war lange genug, um bereits jedem auf die Nerven zu gehen. Daher war es keine Überraschung, dass Brett entschied, dass sie den den alten Begrüßungstrick verdient hätte.

Der war ziemlich einfach. Die meisten neuen Passagiere an Bord vergaßen, dass man die Videokamera am Telefonsystem ausschalten musste, wenn man nicht gesehen werden wollte. Andernfalls konnten Anrufer einen direkten Blick in die Kabine werfen. Daher musste man nur darauf warten, bis sie in einer wirklich peinlichen Situation waren, um dann ihre Nummer zu wählen.

Sie erwischten Vanessa, als sie unter der Dusche stand. Brett hatte zwei Kinder als Komplizen, mit denen er sich angefreundet hatte. Einer war Froggy, ein kleiner Junge, der wirklich ein Computergenie war. Die andere war ein Mädchen namens Zoe, ein ?Wildfang?, die ständig einen düsteren Blick hatte. Zoe war diejenige, die anrief, bevor sie durch den Korridor zu den anderen rannte.

Inzwischen hatte Vanessa, vor Nässe triefend, die Tür geöffnet und hielt notdürftig ein Handtuch vor sich. Gerade, als sie sich aus der Türe lehnte und im Korridor umherschaute, wurden ihr die neugierigen Blicke der Leute auf dem Bildschirm hinter ihr bewußt, die die ungeschützte Aussicht von hinten applaudierten.

„Sieht ja süß aus, Vanessa“, beobachtete Brett.

Sie hätte es ihnen wohl nicht so übel genommen, wenn Froggy es nicht auf die öffentlichen Terminals weitergeleitet haette. Einige ruhmvolle Augenblicke lang konnten alle Kinder in der Kantine und den Freizeiträumen Vanessa’s verzeifelte Versuche beobachten, ihren sommersprossigen Hintern zu bedecken.

Von ihrem Standpunkt aus war natürlich alles, was sie sehen konnte, die drei Gesichter auf dem Bildschirm.

„Willkommen auf ORCA, Hosenscheißer!“

Alle drei sagten es gleichezeitig, doch es war das Gesicht von Brett, das Vanessa am deutlichsten gesehen hatte. Obwohl der Bildschirm einen Moment später schwarz wurde, schörte sie sich, dass sie es ihm zurückzahlen werde, und es sollte nicht lange dauern, bis sie die Chance dazu bekam.

Einige Tage später war Brett alleine auf der Plattform über Wasser. Eines der neuen Boote mit ASN (Automatischer Satelliten-Navigation) war wegen der Generalüberholung auseinandergebaut worden und er hatte die Abwesenheit des Mechanikers ausgenutzt, um sich mal in diesem kleinen Fahrzeug umzusehen. Vanessa schlich sich von hinten an, löste den Ankertau und drückte es mit einem kräftigen Stoß von der Plattform weg. Als Brett bemerkte, was passiert war, war er bereits fünf Meter weit weg und bewegte sich weiter auf die offene See zu.

„Was denkst du, was du da tust? Wie soll ich denn zurückkommen?“ schie Brett.

„Versuch’s doch mal mit schwimmen!“ rief Vanessa. Mit einem finalen „Also, willkommen auf ORCA, Hosenscheißer!“ Sie lief zurück zum Aufzug und machte sich nach unten aus dem Staub.

Brett dachte über seine Möglichkeiten nach. Er wollte es Vanessa sicherlich nicht gönnen, ihn drin in nassen Kleidern zurücklaufen zu sehen. Nein, er entschied, herauszufinden, wie man dieses unvertraute Fahrzeug steuern konnte und es dann zurück zu der Ankerstelle zu fahren. Er fing an, wahllos die Steuerknöpfen auszubrobieren, was sich als Fehler herausstellte.

Mit einem plötzlichen Aufheulen kamen die Motoren zum Leben. Das Boot schoß mit solch einer Kraft nach vorne, dass Brett sich nicht mehr auf seinen Beinen halten konnte und stürzte. Dann lag er auf dem Boden des Bootes, ohnmächtig.

Als er sich wieder erholt hatte und über das Heck zurückblickte, war die ORCA-Plattform bereits 180 Meter weit weg und entfernte sich schnell, und er schoß in Richtung der offenen See, ohne Kontrolle über das Boot.


Auf ihrer Insel hörte Neri den Warnruf vom Meer und schaute auf. Ein Blick auf die sich verdichtenden Wolken und das merkwürdige Licht im Himmel sagten ihr, dass ihr Freund nicht in Gefahr war. Es war ein starkes Unwetter im Anzug.

Sie ging durch den Wald und suchte Hände voller Beeren in den verschiedensten Farben zusammen, mied jedoch die Hellgelben, die am Flußufer wuchsen.

„Giftbeeren“, murmelte sie zu sich selbst und ging weiter.

Als sie gesammelt hatte, was sie benötigte, klätterte sie Hand für Hand den Baum hoch, in dessen Krone sie ihren Schlafplatz hatte. Sie ließ sich nieder, legte die Beeren in greifbare Nähe und begann sich selbst mit Lianen am Stamm festzubinden.

Dann machte sie es sich bequem und wartete auf den großen Sturm.


Die Wellen um die ORCA-Plattform herum begannen bereits, sich über die Plattform zu türmen als Jason bemerkte, dass irgendetwas nicht stimmte.

Er saß in der Kantine mit einer Gruppe von Gleichgesinnten, mit denen er sich angefreundet hatte. Da war dieser dusselig dreinschauende Damien Arthur Geoffries, der wegen seiner Eigenheiten und seinen schicksalshaften Initialien überall als ’Daggy’ bekannt war. Neben ihm saß Jodie, deren Gesicht unterhalb der frisierten Haare mit Anti-Pickelcreme betüpfelt war, ihre Nase steckte gerade in einer Kopie des ‘Seventeen’-Magazins. Außerdem war da noch ein ruhiges, aber hübsches Mädchen namens Lee. Jason mochte Lee vom ersten Moment an, den er sie gesehen hatte. Es war wie ein Schock für ihn gewesen, als Daggy ihm erzählt hatte, dass Lee die Tochter von Commander Lucas sei.

„Wenn er je den Verdacht bekommt, du könntest ein Auge auf sie geworfen haben, dann bist du ein toter Mann“, warnte Daggy ihn und zog seinen Zeigefinger über die Kehle.

Jason war überrascht, seine Mutter kommen zu sehen. Normalerweise hatten die Kinder die Kantine für sich alleine bis die Erwachsenen mit dem Abendessen begannen.

„Jason, haben du oder einer deiner Freunde Bett gesehen? Ich kann ihn nirgends finden.“ Mom sah besorgt aus.

Vanessa meldete sich von einem anderen Tisch: „Ich glaube, ich habe habe ihn mit einem der Boote rumspielen sehen“, sagte sie unschuldig. „Aber das ist Stunden her.“

So fanden sie heraus, dass eines der Boote mit automatischer Satellitennavigation fehlte.

Eine halbe Stunde später wütete Commander Lucas über die Kommandobrücke. „Verdammt noch mal, könnte ihr Leute denn noch nicht mal auf eure Kinder aufpassen!“ donnerte er, während er Startbefehle für die Suchboote verteilte.

„Mach’ dir keine Sorgen, Mom, sie werden ihn finden.“ Jason versuchte beruhigend zu klingen, doch Lucas schaute ihn mit einem finsteren Blick an.

„Ich glaube, sie müssen sich mit einigen harten Tatsachen auseinandersetzen“, sagte er regungslos. „Erstens, wir haben keine Ahnung, wie weit er in welche Richtung entfernt sein könnte. Zweitens baut sich gerade ein tropischer Wirbelsturm auf, der in einer halben Stunde wie ein Expresszug über diese Gegend hinwegdüsen wird. Wenn das passiert, werde ich die Suchmannschaft zurückrufen müssen. Ich kann deren Leben nicht riskieren.“

„Dann werde ich mir eben ein Boot schnappen mich selbst auf die Suche nach ihm machen“, antwortete Mom.

„Dann müssen wir sie zu ihrer eigenen Sicheheit einsperren“, brüllte Lucas. Dann fügte er leiser hinzu: „Sehen sie, es ist ein sehr seetüchtiges kleines Fahrzeug und, wie wir alle wissen, kann er längst sicheres Land erreicht haben. Wenn wir ihn dennoch nicht finden, gebe ich ihnen mein Wort, dass ich beim ersten Tageslicht eine groß angelegte Rettungsoperation veranlassen werde.“

Exakt fünfundvierzig Minuten später, als der Himmel sich zu verdunkeln begann, wurde die Suche abgebrochen.


Brett schmiegte sich an die Planken des kleinen Bootes, das in den riesigen Wellen hin- und hergeworfen wurde. Es war weitergefahren, bis der Sprit alle war und jetzt hatte Brett nicht die leiseste Idee davon, wo er im Moment war. Alles, was er wußte, war, dass er ernsthaft im Schlamassel steckte.

„Mom! Mom!“ schrie er verzweifelt, doch der heulende Wind fing seine Worte auf und warf sie ihm zurück ins Gesicht.