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This document is part of the Ocean Girl Archive — Last update: 2009-02-15 — sourcemeta

Author:Peter Hepworth
Published:1994-01-01
Archived:2008-05-08

4. Brett und die Giftbeeren

Am nächten Morgen war der Wirbelsturm vorrüber und die Suche wurde fortgesetzt. Als Jason auf die Größe des Suchgebietes schaute, die endlose Weite des Meeres um sie herum, spürte er, wie sein Mut sank.

„Wenn nur das Kommunikationssystem nicht zur Generalüberholung auseinandergebaut worden wäre, könnten wir bereits seine Positon haben“, murrte Lucas als er seine Seekarte studierte. Ein Blick schwenkte zu Jason. „Weißt du, ob er Wasser bei sich hatte?“

„Nein — zumindest nicht so weit ich weiß“, murmelte Jason unglücklich.

„Na dann mein Mitleid. Es scheint ein sonniger Tag zu werden“, antwortete Lucas in seine Karte vertieft. „Alles, was sich da draußen in einem offenen Boot befindet wird anfangen zu kochen.“


Die Sonne stand hoch und unbarmherzig am Himmel. Es ging auf den späten Nachmittag zu, obwohl Brett jedes Zeitgefühl verloren hatte. In seinem Kopf drehte sich alles, sein Mund war ausgetrocknet und er haette sogar die heißgeliebten Laserschwerter, die er auf dem Festland hatte zurücklassen müssen, gegen ein Glas Wasser getauscht.

Seit er diesen Morgen aufgewacht war, trieb das Boot ziellos mit der Strömung. Zuerst war er dankbar, noch am Leben zu sein, doch als der Tag anbrach und die Sonne heißer wurde, begann er sich zu fragen, ob das nicht noch schlimmer war als zu ertrinken. Schließlich kauerte er sich am Schiffsheck zusammen und schlief ein.

Er erwachte erst, als das Boot zu zittern begann und der Bug auf Sand und dann auf Grund lief und schließlich stehen blieb. Brett stand auf und starrte auf seine Umgebung.

Er war auf einem wunderschönen weißen Stand auf Grund gelaufen, der sich so weit seine müden Augen blicken konnten zu erstrecken schien. Er hoffte, dass es das Festland sein könnte, doch es gab keine Anzeichen von Häusern oder irgendwelchen anderen Gebäuden in der näheren Umgebung.

Er glitt über die Reeling, fiel ins Wasser und watete beständig auf das Ufer zu. „Hallo! Ist den niemand hier?“ rief er so laut, wie es sein trockener Hals erlaubte.

Keine Antwort.

„Bitte helft mir! Ich brauche Wasser!“

Wieder gab es keine Antwort, nur die Schreie von Vögeln im Wald, der an den Strand grenzte. Da ihm nichts anderes einfiel, torkelte er in Richtung der Bäume.

Er nahe der Ohnmacht, als er auf eine Strömung traf, die durch den Wald floss. Er bemerkte noch nicht einmal den kleinen Kreis aus Steinen nahe dem Ufer, die durch den häufigen Gebrauch als Feuerstelle ganz schwarz gebrannt waren. Er lief einfach daran vorbei, warf sich mit dem Gesicht nach vorne ins Wasser und schluckte hastig. Es war wohlschmeckend und kühl und er trank mit langen Zügen.

Als er schließlich seinen Durst gestillt hatte, bemerkte Brett plötzlich, dass er auch Hunger hatte. Einen unerträglichen Hunger. Er sah sich voller Hoffnung noch etwas zum Essen um und erblickte ein paar gelbe Beeren am Ufer.

Sie sahen reif und einladend aus und als er etwas unsicher in die erste hineinbiss, füllte sich sein Mund mit einem Geschmack von Weinhnachtspudding. Vielleicht mit einem leicht abgestandenen Beigeschmack, aber trotzdem Weihnachtspudding. Er pflückte sie mit beiden Händen, stopfte sie in den Mund und kümmerte sich nicht weiter um den gelben Saft, der seine Lippen befleckte, an seinem Kinn herunterlief und auf den Boden tropfte.

Er pflückte noch immer, als ihn plötzlich ein merkwürdiges Gefühl überkam. Alles verschwamm vor seinen Augen, dann schien sich der Wald um ihn herum um im Kreis zu drehen, zuerst langsam, dann schneller und schneller. Währenddessen spürte er, wie sich ein Taubheitsgefühl in seinem Körper ausbreitete.

Brett fiel kopfüber nach vorne und alles wurde schwarz.


Als sie in der Bucht auftauchte sah Neri das Boot am Strand. Einen Moment lang blieb sie erschreckt stehen, ihre Finger umfassten die Harpune etwas fester, die sie bei sich trug. Ein kleiner Barsch war am Widerhaken aufgespießt und zitterte noch. Dann watete sie auf das Ufer zu und bewegte sich vorsichtig in Richtung des merkwürdigen Fahrzeugs.

Sie umkreiste es langsam und fand eine Reihe von Fußspuren, die in den Wald führten.

Ein Fremder. Es war ein Fremder auf ihrer Insel! Neri bewegte sich wie ein Schatten durch das Unterholz, schlich aus dem Schutze eines Baumes zum nächsten, folgte den Spuren. Sie hatte fast den Platz erreicht, den sie ’zu Hause’ nannte, als sie am Flußufer über jemanden stolperte, der auf dem Boden lag und alle viere von sich streckte.

Sie beugte sich über die regungslose Gestalt, deren merkwürdige Kleidung und komische schwarze Dinger an den Füßen sie verunseichterten. Schuhe erinnerte sie sich, so nennt man sie, hatte Vater gesagt.

Sie schaute sich die Person näher an, betrachtete das Gesicht und bemerkte die gelben Flecken auf den Lippen. Sie wußte sofort, dass er Giftbeeren gegessen hatte.

Sie hielt nur für einen Augenblick inne, dann rannte sie in den umliegenden Wald, wo sie die Pflanzen sammelte, die sie brauchte.


Brett wachte auf, als er fühlte, wie etwas gegen seine Lippen gedrückt wurde. Es war ein Becher, aus einer halben Kokosnusschale gefertigt, der mit einem Gebräu gefüllt war, das schrecklich roch. Er versuchte, es wegzuschieben.

„Trinken.“

Brett öffnete die Augen und erschrak. Das Gesicht, das er erblickte war das eines Mädchens, das etwas älter als er selbst war. Eine verflochtene Mähne von sonnengebleichtem Haar umgab eine breite Stirn, gerade Nase und einen hübschen Mund. Doch es waren ihre Aufen, die seine Aufmerksamkeit auf sich zogen; sie waren wie der Ozean, seegrün und natürlich. Sogar in der Halbdunkelheit schienen sie in den Augenhöhlen zu glitzern.

Das Mädchen war groß und schlank, doch irgendwie erweckte etwas den Eindruck, dass sie versteckte Kräfte in ihrem geschmeidigen, sonnengebräunten Körper trug. Sie trug ein einfaches Kleid, das aus einer Art merkwürdigem, rauhfaseringen Gewebe gefertigt war, wie Brett es noch nie gesehn hatte.

Der Saum endete an ihrem Oberschenkel in einem Gewirr von Fäden.

Sie drückte den Becher wieder an seinen Mund.

Als sie seinen Kopf anhob, wurde Brett sich der großen Muschel voll Flüßigkeit bewußt, die über dem Feuer neben ihnen hing.

„Du hast Giftbeeren gegessen“, sagte sie. „Trink. Oder du weg für immer.“

Der drängende Blick in ihrem Gesicht ließ Brett plötzlich das Blut in den Adern gefrieren. „Du meinst… sterben?“

Sie schien einen Moment lang nachzudenken, dann zuckte sie mit dem Achseln und nickte.

Die Flüssigkeit hatte einen merkwürdigen salzigen Geschmack. Noch bevor er den Becher ausgetrunken hatte, fühlte er, wie wohlige Wärme seinen ganzen Körper durchdrang. Seine Augenlieder fielen zu.

„Du jetzt schlafen“, sagte das Mädchen. „Du schon bald gesund.“

Sie legte seinen Kopf wieder zurück, doch blieb über ihn gebeugt. Als Brett seine eigene Stimme hörte, schien es ihm, als sei sie weit entfernt. „Wie heißt du? Wie ist dein Name?“

Eine Mundwinkel erhellte sich im leichten Flackern eines Lächelns. „Neri“, sagte sie.


Brett erwachte mehrmals in der Nacht aus einem unruhigen Schlaf, doch sie war immer da. Meist saß sie leise in der Nähe und betrachtete sein Gesicht mit einem rätselhaften Blick. Einmal hielt sie ihre Hand neben seiner, als ob sie die beiden vergleichen wollte. In den dunkelsten Stunden bekam er manchmal halbwach mit, wie sie seine Stirn mit Wasser betupfte während sie bei jedem Atemzug eine merkwürdige Melodie aus quietschenden und zirpenden Tönen summte. Es erschien Brett irgendwie vertraut, doch er schlief gerade wieder ein, als ihm langsam bewusst wurde, wo er so etwas schon einmal gehört hatte.

In Mom’s Labor.

Es waren die Laute des Walgesangs.


Kurz nach Sonnenaufgang am nächsten Morgen meldete Winston auf einem der Suchboote, dass man auf dem Meer in einiger Entfernung etwas entdeckt hätte.

Auf ORCA klammerte sich Mom fest an Jason’s Hand.

Ein oder zwei Minuten später kam Winston zurück auf den Bildschirm um sich zu korrigieren. Nachdem sie näher herangefahren waren, hatten sie bemerkt, dass das Objekt ein Wal gewesen war, der sich im Wasser sonnte.

„Der Schwanzflosse nach zu urteilen könnte es sogar unser Freund sein“, fügte er beiläufig hinzu.

Lucas unterbrach ihn und befahl ihm, in das nächste Suchgebiet zu fahren.

Als das Boot den Kurs änderte, sah der Wal ihnen hinterher. Dann begann er zu singen.


„Junge! Junge!“

Brett wachte auf und bemerkte, wie Neri in rüttelte. Er fühlte sich noch schwach und schrecklich müde und versuchte, sich umzudrehen und weiterzuschlafen, doch sie hörte nicht auf. „Junge! Dein Name?“

„Brett“, murmelte er.

„Bre-ett.“ Sie versuchte es sich selbst noch mal vorzusprechen, bevor sie ihn wieder rüttelte. „Brett, deine Leute suchen nach dir. Werden auf Insel kommen. Besser nicht. Ich dich bringen, sie dich finden.“

Doch Brett rührte sich nicht. Er fühlte sich einfach nicht stark genug, um sich zu bewegen. Also zog Neri ihn hoch. Mit einem Zug hob sie ihn ohne Hilfsmittel vom Boden hoch, als wäre er eine Stoffpuppe. Dann hielt sie ihn in ihren Armen und ging in Richtung des Strandes.

Sie legte ihn in das Boot und hielt inne. Brett war sich der eindringlichen Blicke bewusst. „Brett, bitte versprich mir, erzähle niemand von Neri.

Schwöre.“

„Ich schöre es.“

Sie nickte, stellte sich vor das Boot und zog am Ankertau. Brett hielt den Atmen an, als er bemerkte, dass das Gefährt sich zu bewegen begann. Das Mädchen zog das Boot mit einer Hand ins Wasser! Dann, als es frei schwamm, glitt sie unter Wasser. Das Tau straffte sich wieder und das Boot begann, sich nach vorne zu bewegen. Zuerst langsam, dann nahm es an Fahrt zu während sie es von der Insel auf die offene See hin wegschleppte.


Winston’s aufgeregtes Gesicht erschien auf dem Kommunikations-Bildschirm. „Wir haben ihn gefunden! Er ist etwas erschöpft, sie meinen aber, er wäre in Ordnung.“

Mom umarmte Jason. Er konnte sehen, dass sie schwer die Tränen zurückhalten konnte und fühlte einen Kloß im Hals. Er hatte es Brett gegenüber noch nie zugegeben — nicht einmal jetzt zeigte er seine Gefühle — aber er konnte sich ein Leben ohne den kleinen Frechdachs nicht vorstellen.

„Es ist schon merkwürdig“, fuhr Winston fort und kratzte sich am Kopf.

„Wir haben diese Gegend schon vor einer Stunde durchsucht und da gab es kein Zeichen von ihm. Plötzlich ist er da, treibt einfach direkt vor uns. Wir wissen nicht, wo er hergekommen ist.“

Im Hintergrund wurde Brett an Deck des Suchschiffs auf eine Trage gelegt.

Winston ging zu ihm hin. „Wie geht es dir, mein Junge?“, fragte er freundlich.

Brett schaut auf, etwas benommen. „Wo ist Neri?“

Winston runzelte die Stirn. „Neri? Was ist Neri?“

Dann erinnerte sich Brett an sein Versprechen. „Ach nichts“, antwortete er. „Nur ein Traum.“


Diesen Abend, zurück in seinem Bett, lag Brett still und gedankenversunken eine lange Zeit da, bevor er schließlich den Mund öffnete. „Jace, ich habe sie getroffen.“

„Wen hast du getroffen?“ fragte Jason ohne Interesse.

„Das Mädchen aus dem Meer. Das, das du gesehen hast. Ich glaube, sie hat mir das Leben gerettet.“

Jason sprang vom oberen Bett, die Augen vor Aufregung weit aufgerissen.

„Das soll wohl ein Witz sein!“

„Keineswegs“, sagte Brett und erzählte ihm die ganze Geschichte. Jason hörte zu und verschlang förmlich jedes Wort.

„Glaubst du, du kannst die Insel wiederfinden?“ fragte er, als Brett fertig war.

Brett schüttelte den Kopf. „Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wo ich war. Außerdem musst du das für dich behalten Jason. Ich habe ihr mein Wort gegeben. Ich erzähle es dir nur, weil, tja, weil du sie quasi schon kennst.“

„Hey, ich sage schon nichts, nach dem Ärger, den ich das letzte Mal hatte, werde ich schweigen wie ein Grab“, betonte Jason. „Nicht, bis wir ihnen Neri in Fleisch und Blut zeigen können. Und diesen Tag werde ich mit Spannung erwarten.“