This document is part of the Ocean Girl Archive — Last update: 2009-02-15 — source — meta
Nun, da sie den Weg zu Neri’s Insel kannten, nahmen Jason und Brett jede Möglichkeit wahr, von ORCA wegzukommen, um dort ihre Zeit zu verbringen. Das bedeutete, dass sie sich erfundene Fischexpeditionen oder andere offizielle ORCA-Pflichten ausdenken mussten, die es ihnen gestatteten, das Boot zu benutzen. Dabei bekamen sie die Hilfe von Brett’s Freund Froggy.
Froggy war ein Freak in Sachen Computer. Sie waren sein ein und alles.
Und über all dem verehrte er HELEN, das gigantische Elektronengehirn, das für das tagtägliche Funktionieren des ORCA-Komplexes verantworlich war.
Froggy’s Faszination für HELEN war weithin bekannt. Commander Lucas hatte ihm ein Aufenthaltsverbot auf der Brücke erteilt, weil er dort an ihr herumgebastelt hatte. Doch sogar Lucas war bei bestimmten Vorfällen dazu gezwungen, Froggy anzusprechen, wenn ein technisches Problem sogar seine eigenen Experten überfordert hatte. Er wußte, dass Froggy auf alles eine Antwort hatte. Was er nicht wusste war, dass Froggy einen Weg gefunden hatte, HELEN von einem Terminal im Klassenzimmer nach Schulschluß benutzen zu können. Er würde noch so manche fröhliche Stunde dort nach dem Lernstress verbringen und mit ihren Programmen rumspielen.
Froggy hatte neben HELEN noch eine andere Schwäche, und das war Schokolade. Für einen Giant-Whoopee-Riegel hätte er HELEN sogar dazu gebracht, Jason und Brett die gesamte ORCA-Flotte zu überlassen. Daher war er sehr froh, dass er sie dazu bringen konnte, offiziell ein einzelnes Boot herauszugeben. Von seinem Standpunkt aus war das genug, um seine Fähigkeiten zu beweisen — und der Whoopee-Riegel war ein Bonus. Mit dieser unkomplizierten Transportmöglichkeit konnten Jason und Brett von nun an wegfahren wann immer sie wollten und es ihre Pflichen an Bord erlaubten.
Sie versuchten immer, so früh wie möglich aufzubrechen. Sogar das schnelle ANT-Boot brauchte eine Stunde, um an der abgelegenen Inselgruppe anzukommen und sie wollten so viel Zeit ausnutzen, wie sie hatten.
Nur Vanessa schien sich für ihr Kommen und Gehen zu interessieren.
Eines Tages fing sie die beiden am Hauptlift ab, gerade als sie wegfahren wollten, und fragte sie, wohin sie die ganze Zeit verschwinden würden. Brett murmelte etwas von Fischen gehen, dann drückten sie sich an ihr vorbei. Als sie ihnen beim Weggehen zusah, drückten sich Vannessa’s kleine Augen zu einem Schlitz zusammen. Seit dem Vorfall bei ihrer Ankunft hatte sie sich entschlossen, dass ihr niemals wieder jemand in den Rücken fallen würde.
Daher war sie ständigauf der Hut, um Anzeichen auf Ärger rechtzeitig zu wittern. Und diesmal spürte sie diesen Geruch deutlich in den Nasenlöchern.
Jason bemerkte, dass die Zeit auf Neri’s Insel anders zu laufen schien.
Eine Stunde schien in die nächste überzufließen, ohne dass jemals Langeweils aufkam.
Morgens schwangen sie sich immer an Lianen über dem Fluss hin- und her, brausten auf natürlichen Schlammrutschen die Böschung hinunter oder erforschten die versteckten Ecken und Winkel des Regenwaldes. Dann verkündete Neri, dass es Zeit zum Essen war und führte sie zum Meeresarm, den sie Charley’s Bucht nannten, da sie ihn dort immer beim Planschen in der Mündung antrafen, wenn er zuhause war.
Dort tauchte Neri unter und fing Fische. Das erste Mal waren die Jungen sprachlos, als sie ihr dabei zusahen. Wenn sie hinter einer größeren Beute herjagte, trug sie immer einen Speer mit Widerhaken, den sie selbst gebaut hatte. Doch meistens tauchte sie nach niedlichen kleinen Fischchen, die in riesigen Schwärmen durch das Riff flitzten. Diese fing sie einfach mit einer blitzschnellen Bewegung ihrer bloßen Hände, während sie neben ihnen herschwamm.
Nachdem sie genug gefangen hatte, führte Neri sie zurück zu ihrem Baumnest. Während die Jungs den Fang mit scharfkantigen Muscheln säuberten, setzte sie sich an den kleinen Steinkreis in der Nähe. Mit zwei Drehstäben und einem Büschel trockenem Gras hatte sie bald ein fröhlich vor sich hin flackerndes Feuer. Dann schlemmten sie den gegrillten Fisch mit den Nüssen und Beeren, die Neri aus dem umliegenden Wald gesammelt hatte.
Später saßen sie immer um die Glut des Lagerfeuers herum und sprachen miteinander. Da Neri mehr Zeit mit den Jungen verbracht hatte, wurde ihre Aussprache besser. Sie ließ immer noch von Zeit zu Zeit Wörter aus, aber sie war nicht mehr so unentschlossen und unsicher. Sie begann, die neu gefundene Fähigkeit zu genießen und stellte ihnen endlose Fragen.
„Wo euer Vater?“ fragte sie aus heiterem Himmel heraus.
Jason wich zurück. „Er … er lebt im Moment nicht bei uns.“ antwortete er unbeholfen.
„Sie werden sich wohl scheiden lassen“, warf Brett dazwischen.
„Sie leben gerade getrennt“, korregierte Jason ihn mit abgehackter Stimme. „Dad hat gesagt, es gäbe noch ein paar Dinge, die sie klären müssten und es wäre das beste, wenn wir bei unserer Mutter bleiben würden.“
Neri’s Augen glitzerten aufgeregt. „Ihr habt Mutter?“ fragte sie.
„Natürlich“, sagte Brett mit einem leichten Seufzer. „Denkst du etwa, sie hätten uns unter der Brücke gefunden oder so?“
„Ich erinnere nicht meine“, sagte Neri nachdenklich. Dann wandte sie sich wieder eifrig zu Jason.
„Erzähl mir von ihr. Ist sie schön?“
Jason verzog das Gesicht. Er hatte noch nie über Mom auf diese Weise nachgedacht. „Ja, ich denke schon“, sagte er schließlich. „Aber sie macht sich nicht so viel aus fein anziehen und so. Dafür hat sie die meiste Zeit zuviel mit ihrer Arbeit um die Ohren.“
„Das stimmt“, stimmte Brett zu. „Für Mom kommt immer die Arbeit zuerst. Das ist der ganze Grund, warum sie sich für ORCA beworben hat.“
Neri überlegte einen Moment. „Vielleicht will ich eines Tages Mutter sehen“, sagte sie leise.
„Ich denke nicht, dass das eine sehr gute Idee wäre, Neri“, sagte Jason hastig, „auf jeden Fall nicht die nächste Zeit.“
Doch es war etwas in Neri’s Stimme, ein Anzeichen von Entschlossenheit, dass ihn plötzlich nervös machte. Er war sehr froh, als sie das Thema wechselte. „Ich fühle mich trocken“, sagte sie während sie mit einer Hand über die Stirn strich.
Das war noch so eine merkwürdige Sache, die die Jungen bei Neri bemerkten. Wenn sie länger als ein paar Stunden aus dem Wasser draußen war, schien sie schwächer zu werden und zu erblassen. Jedoch brachte ein schnelles Bad im Ozean oder dem Fluß fast auf der Stelle wieder Leben in ihren Körper.
„Schwimmen“, sagte sie und sprang auf die Beine.
Wie gewöhnlich gingen sie nach dem Essen zurück zu Charley’s Bucht.
Diesmal nicht um zu jagen, sondern einfach um im funkelnden blauen Meer umherzutoben. Wenn Charley da war, tauchte Neri mehrere Male neben ihm auf und ab. Dort tummelten sie sich dann, Neri sprang oft spielersisch vor seiner Nase im Wasser umher oder umkreiste ihn um ihn beim Vorbeischwimmen am Bauch zu kitzeln. In der Zwischenzeit vergnügten Jason und Brett sich beim Wellenreiten zwischen den Flachwasserstellen des Riffs oder faulenzten einfach in der Sonne.
Doch dieser Nachmittag war anders. Charley war da, aber Neri winkte ihnen Strand aus zu. Dann nahm sie Jason’s Hand und begann, ihn ins tiefe Wasser zu fueren. „Komm“, sagte sie.
„Wohin?“ Jason klang unsicher.
„Ich zeige dir Charley’s Welt.“
Der Zug an seiner Hand war hartnäckig. Jason hatte gerade einmal Zeit, einen langen Atmenzug zu nehmen, bevor er sich unter Wasser wiederfand, von ihrem kräftigen Griff weggezogen.
Erst als seine Lungen fast platzten, schaffte er es, seine Hand freizubekommen und schnell zur Oberfläche zu tauchen. Als er nach Luft schnappend angekommen war, erschien Neri und schaute ihn fragend an. Jason musste ihr klar machen, dass er den Atmen nicht so wie sie anhalten konnte. Eine oder höchstens zwei Minuten, erklärte er ihr.
Das schien Neri zu verblüffen. Jedoch verabredete sie mit Jason, dass er ihre Hand drücken sollte, wenn ihm die Luft ausging, damit sie ihn loslassen konnte. Es brauchte ein wenig Übung. Zuerst zog ihn Neri wieder nach unten, wie sie es gewohnt war, bevor er genug Luft holen konnte. Doch schon bald kamen sie damit klar und Jason glitt mit ihr Hand in Hand elegant durch das Meer.
Eine Stunde lang schwebten sie durch gigantische Korallenschluchten, jagten hinter schlaftrunkenen Schildkröten her und hetzten Flischwolken, die in tausenden von Farben erstrahlten und zur Wasseroberfläche fliehen wollten, als sie sich näherten. Jedesmal wenn sie zum Luftholen nach oben kamen, konnte es Jason kaum erwarten, wieder genug frische Luft zum Tauchen geatmet zu haben. Mit Neri als Frührerin war es wie ein Flug über eine fantastische Landschaft von ständig wechselnden Formen und Farben.
Plötzlich merkte er, wie sich etwas neben ihnen herbewegte. Er drehte den Kopf. Charley schwamm in einiger Entfernung und hielt ihr Tempo mit mühelosen Bewegungen seiner Schwanzflosse. Von außerhalb des Wasser aus betrachtet, war seine Größe beeindruckend. Von unterhalb, war sie fast schon erschreckend. Und trotzdem begleitete sie dieses riesige Wesen wie ein Schmusehund auf Schritt und Tritt.
Später, als er am Strand saß und Brett bei seinem Schwimmausflug mit Neri zusah, füllte sich Jason’s Gesicht langsam mit einem Lächeln. Der Gedanke daran, wegen vermeintlicher Langeweile des Lebens hier draußen eventuell nicht mit nach ORCA gekommen zu sein. Dabei hatte er gerade den Meeresboden erforscht, mit einem Mädchen und einem Buckelwal als Kameraden! Er warf sich rückwärts in den Sand und lachte bis ihm der Bauch weh tat.
Vanessa wartete auf dem ORCA-Ponton, als sie am späten Nachmittag zurückkamen. Als sie die Leiter hochkletterten, schaute sie in ihr Boot runter und rümpfte die Nase.
„Ich dachte, ihr währt fischen gegangen?“ sagte sie misstrauisch.
„Waren wir auch“, antwortete Jason.
„Und wo sind dann die Fische?“ Vanessa zeigte auf den leeren Fischkorb in Jasons Hand.
„Es war ein schlechter Tag, sie haben nicht angebissen“, unterbrach Jason sie und fügte hinzu: „Nicht dass diese Angegenheit dich etwas angeht, Große Schnüfflerin.“
Aber Vanessa wollte es dabei nicht belassen.
„Gut, dann werde ich es eben zu meiner Angelegenheit machen, du kleiner Wurm“, rief sie als sie sich zum Eingang des Aufzug wandten. „Weil ich denke, dass ihr zwei etwas vor habt. Und ich werde herausfinden, was es ist.“
Beim nächsten Ausflug zur Insel kam Jason alleine. Und er war, so schien es Neri, eigenartig beunruhigt.
Er erklärte ihr, das Brett am Tag zuvor Geburtstag gehabt hatte. Von seinen Freunden Zoe und Froggy angefeuert hatte Brett rekordverdächtige sieben Stücke Geburtstagskuchen verspeißt. Jetzt war er mit rekordverdächtigen Magenschmerzen ans Bett gefesselt.
„Was ist Geburtstag?“ fragte Neri, als er fertig war. Jason versuchte, es ihr begreiflich zu machen, doch Neri schaute ihn nur fragend an. Schließlich gab er es auf.
„Ist ja nicht so wichtig“, sagte er mit einem Achselzucken, „jedenfalls nicht für Dad“, und er biss sich nervös auf den Lippen als sie weggingen.
Jason war ungewöhnlich ruhig diesen Morgen und zeigte wenig Interesse an ihren üblichen Beschäftigungen Stattdessen saß er leise am Fluß, in seinen Gedanken verloren.
Schließlich kam Neri und setzte sich vor ihn. „Du innen verletzt, Jason.
Warum?“ fragte sie.
Jason beabsichtigte nicht, es ihr zu erzählen. Eigentlich war er auf die Insel gekommen, um zu vergessen, was passiert war. Doch plötzlich musste er einfach die ganze Geschichte aus sich rauslassen.
Er erzählte ihr davon, wie Dad Brett’s Geburtstag vergessen, ja noch nicht einmal ein Geschenk geschickt hatte. Wie er versucht hatte, Dad in seiner neuen Wohnung zu erreichen, und wie sich nur eine merkwürdige Frau am Telefon gemeldtet hatte. Und wie sich Mom versichert hatte, dass Dad eine neue Freundin hatte und wie sie die Scheidung durchgeführt hatten. Jason wußte, was das alles bedeutete. Es gab keine Hoffnung mehr. Dad würde nie wieder nach Hause kommen.
Dann hörte Jason zu seinem Scham, wie seine Stimme zu schluchzen begann und er fühlte, wie ihm die Tränen in die Augen kamen. Er versuchte, sich umzudrehen, doch Neri legte eine Hand auf seine Schulter und hielt in fest. Sie beugte sich nach vorne, streckte die Hand aus und wischte mit dem Zeigefinger eine Träne von seiner Wange. Sie starrte darauf, fasziniert und verwirrt.
„Was ist das?“ sagte sie.
Jason wurde klar, dass er Neri noch nie weinen gesehen hatte. Noch nicht einmal, wenn sie sprach, wie sie ihren Vater verloren hatte. Nachdem er sich wieder gefasst und die Augen trockengewischt hatte fragte er sie danach.
Würde sie sich nie traurig fühlen, weil er nicht mehr da war?
Neri zuckte mit den Achseln, doch sprach weiter. „Dinge gehen. Neue Dinge kommen. So ist es mit allem.“
Sie berührte sanft seine Hand.
Während er so alleine mit ihr da saß, fühlte Jason, dass sie vielleicht irgendwie Recht hatte. Dass der Schmerz, den er fühlte, mit der Zeit vergehen und von anderen Dingen verdängt werden würde. Es war, als ob sie ein schweres Gewicht von ihm genommen hätte und er war froh, dass er gerade mit ihr darüber gesprochen hatte.
Doch die Tatsache dass Neri nie weinte — es vielleicht nicht konnte — überraschte ihn. Und es sollte nicht die letzte Überraschung dieses Tages sein.
Später, als Neri damit beschäftigt war, Fische für das Mittagessen zu sammelen, zog Jason die Tauchmaske, den Schnorchel und die Flossen an, die er mitgebracht hatte und schwamm zu Charley’s Bucht. Es war nicht so aufregend, wie mit Neri zu schwimmen, doch er fühlte immer noch, wie ein Gefühl von Frieden über ihn kam, als er langsam mit dem Wasser durch die Korallen trieb und sich in tiefere Gewässer vorarbeitete.
Obwohl er erst auf halber Strecke draußen war, taucht er auf und schaute sich um. In einiger Entfernung konnter er Charley sehen, der sich in der Nähe der Mündung der Bucht sonnte. Was er nicht sah, als er wieder untertauchte, war eine dunkle, torpedoähnliche Gestalt, die vom Meer her kam und von den Bewegungen seiner Flossen angezogen wurde.
Neri watete an die Küste, als sie den dringenden Ruf hörte.
Einer mit Fangzähnen ist unter uns! Dann sah sie die Vision. Die sich geschmeidig bewegende, tödliche Gestalt mit seiner gebogegen Rückenflosse glitt an Charley vorbei, als sie um ihr Opfer kreiste. Sie warf die Fische hin, die sie trug und rannte zurück ins Wasser. Mit einer Reihe kräftiger Stöße schoss sie raus in die Richtung, in der sie Jason zuletzt gesehen hatte.
Er wollte gerade zum dritten Mal zu einer Grotte unter Wasser tauchen, als Neri aus dem Nichts auftauchte, ihn packte und zur Oberfläche schleppte.
„Raus! Schnell!“ schrieh sie. Das nächste, an das Jason sich erinnern konnte, war, am Strand aus dem Wasser gezogen zu werden.
„Was in aller Welt ist los?“ fragte er, als er sich aus dem Sand aufrappelte.
„Hai! Dort ist ein Hai!“
„Wovon sprichst Du, Neri?“ sagte Jason und zeigte auf die glatte Oberfläche der Bucht. „Ich sehe keinen… “
Vor Schreck blieb ihm das Wort im Halse stecken. In diesem Moment tauchte die Rückenflosse eines riesigen weißen Haies dort auf, wo er gerade eben noch getaucht hatte.
„Aber Du warst so weit weg“, sagte Jason, als er endlich die Sprache wiedergefunden hatte. „Wie konntest Du wissen, dass ich dort war?“
„Charley mir gesagt“, antwortete Neri. Und dann hielt sie inne und hielt sich die Hand vor den Mund. Ihr Vater hatte sie viele Male gewarnt. Gewarnt dass, wenn sie eines Tages Fremde treffen sollte, es Dinge gäbe, die man ihnen über sie und Charley nicht erzählen durfte. Sie würden sie nicht verstehen, hatte er gesagt. Und jetzt hatte sie gerade ihr letztes Geheimnis ausgeplaudert.
Jason schnappte nach Luft. „Das hat Charley dir gesagt? Wie?“
Neri blickte Jason prüfend ins Gesicht. Er war nicht wirklich ein Fremder, dachte sie. Nicht mehr. Und als er ihr gezeigt hatte, wie Wasser aus seinen Augen kam, hatte er sicherlich sein eigenes Geheimnis mit ihr geteilt.
„Er singt zu mir“, sagte sie, „und ich höre es hier.“ Sie berührte ihre Stirn neben der Schläfe. „Er sagt mir, wo er ist und was er sieht. Und manchmal, wenn er sich wehtut oder sich fürchtet, singt er sehr laut. Dann sehe auch ich durch seine Augen.“
„Und du… “, flüsterte Jason, weil er kaum mehr ein Wort herausbrachte, „kannst zurücksingen?“
„Natürlich.“
Jason setzte sich in den Sand als hätte man die Luft aus ihm herausgelassen. Er legte den Kopf in die Hände und war eine Zeit lang still. Dann schließlich blickte er aufmerksam auf sie hoch. „Das verstehe ich nicht“, sagte er verwirrt. „Was bist du?“
„Ich bin Neri“, antwortete sie.
Sie ging den Strand herunter und hob die Schnur mit den Fischen auf, die sie dort hinterlassen hatte. Als sie zurückkam, hatte sie ein Lächeln im Gesicht. „Komm“, sagte sie. „Wir gehen essen.“
Als sie später am Lagerfeuer saßen erzählte ihm Neri, wie es angefangen hatte.
Sie war noch ein sehr kleines Mädchen, erzählte sie, als sie eines Tages von ihrem Vater wegging, zu den Spitzen der Klippen, die die Bucht begrenzten.
Als sie sich zu nah an den Abgrund wagte, rutschte sie aus und stürtzte von der Klippe in das Meer darunter. Sie versuchte sich einen Moment lang verzeifelt über Wasser zu halten, doch dann begann sie, wie ein Stein zu sinken.
Charley muss in der Bucht gewesen sein und das Platschen gehört haben, denn bald kam er an der Stelle an. Alles, an was sie sich noch erinnern konnte, war ein großes, dunkles Auge, das neben ihr auftauchte. Das nächste war, dass sie auf seinem breiten Rücken an die Oberfläche gehoben wurde, wo er sie in der Sicherheit einiger Felsen beschnupperte, bis ihr verzweifelter Vater ankam.
Sie ging weiterhin zu dieser Bucht und indem sie seine Bewegungen nachahmte, konnte sich Neri bald mit Leichtigkeit sicher durch das Wasser bewegen.
„Also war es Charley, der dich gelehrt hat, so zu schwimmen, wie du es kannst?“ unterbrach Jason sie.
Neri nickte. Es war im Verlauf dieser Übungsstunden, fuhr sie fort, als sie bemerkte, dass sie ihn verstehen konnte und sie sich zu unterhalten begannen.
Zur gleichen Zeit schlossen sie auf ewig Freundschaft. Sie hielt den Atmen an.
„Du hättest mir das doch nicht das alles erzählen müssen“, sagte Jason leise. „Warum hast du es trotzdem getan?“
„Wir sind auch Freunde, Jason“, antwortete sie und schaute ihm in die Augen. „Jetzt habe ich in dein Herz gesehen und ich weiß dass ich dir vertraue.“
Von diesem Tag an fühlte Jason, dass es ein besonderes Band zwischen ihm und Neri gab. Als er diesen Nachmittag zurück nach Hause fuhr, begleitete sie ihn zusammen mit Charley. Erst als die ORCA-Plattform inSicht kam, beachtete sie Jason’s warnende Gesten und sie machten kehrt.
Im Labor beobachteten Dianne und Jason, wie die beiden Punkte auf dem Bildschirm zusammen umkehrten. Daneben summten die Recorder leise vor sich hin während sie die Geräusche des Walgesangs aufzeichneten, die von der Sonde gesendet wurden. Winston tippte mit dem Finger auf den kleineren Punkt.
„Hier ist wieder unser kleiner Freund“, sagte er. „Und, hört mal genau hin, unser Bursche singt wie ein Vögelchen.“
Sie nickte. „Wir bekommen sicherlich die besten Aufnahmen, wenn dieses Ding bei ihm ist. Ich frag mich, was zum Teufel das ist!“
„Ich erinnere mich an ein altes tibetianisches Sprichwort.“ sinnierte Winston. „Der weise Mann sucht nach Lösungen zuerst in seinem eigenen Hinterhof.“
„Und was soll das bedeuten?“
„Dass sie vielleicht schon die Antwort haben. In diesen Boxen hier drüben.“ Er zeigte auf den ständig wachsenden Stapel von Walaufnahmen in Schachteln auf einem Regal.
„Sie meinen, es könnte darunter einen Hinweis darauf geben, welche Tierart wir hier sehen.“
„Wer weiß?“ antwortete Winston. „Aber es ist doch einen Versuch wert, oder?“
Ohne zu antworten ging sie auf die Schachteln zu und begann, sie herunterzunehmen.
„Neri kann mit Charley reden!“ Brett saß auf seinem Bett und hatte vor Aufregung sogar die Magenschmerzen vergessen. Jason wies ihn darauf hin, leise zu bleiben.
„Aber wie macht sie das, wenn sie gerade schwimmt?“ fuhr Brett flüsternd fort. „Kriegt sie da nicht den Mund voll mit Wasser?“
„Es ist nicht wie normales Sprechen, Dummkopf“, entgegnete Jason „Es geht eher über Gedanken. Eine Art Telepatie.“
„Trotzdem, was wird Mom tun, wenn sie das herausfindet? Sie wird ausflippen!“
„Mom wird gar nichts tun“, antwortete Jason mit ruhiger Stimme, „weil wir es ihr nicht sagen werden.“
Brett blickte unsicher. „Irgendwann müssen wir das wohl, oder, Jace?
Ich meine, sie sitzt in diesem Labor mit einer Ausrüstung, die eine Trillion Dollar gekostet hat und versucht, mit Walen zu sprechen. Und Neri kann es die ganze Zeit!“
„Richtig. Was also denkst du, wird passieren, wenn wir das einfach so ausplaudern? Alle diese Eierköpfe in Laborkitteln würden Neri auseinandernehmen um herauszufinden, wie sie das tut. Sie würden sie wahrscheinlich schneller in Reagenzgläser verteilen als du dir vorstellen kannst.“
„Mom würde das nie zulassen.“
„Du weißt, wie sie ist, wenn es um ihre Arbeit geht. Außerdem hat sie das eventuell gar nicht zu entscheiden. Willst du das riskieren?“
Brett dachte einen Moment darüber nach, dann schüttelte er verdrießlich den Kopf.
„In Ordnung“, fuhr Jason fort, „und wenn wir es Mom nicht erzählen dürfen, dann dürfen wir es auch niemand sonst erzählen. Vor allem nicht deinen Freunden.“
Darauf widersprach Brett. „Meine Freunde!“ sagte er. „Und was ist mit deinen? Wie Daggy und Jodie und Lee, die du immer so verliebt anstarrst?“
„Ich starre Lee nicht an!“ betonte Jason und fügte hinzu, „Egal, am wichtigsten ist es, dass Vanessa nichts erfahren darf. Sie schnüffelt bereits die ganze Zeit rum. Wenn sie je etwas herausfindet, weiß es innerhalb von zehn Minuten jeder auf ORCA.“
Sie diskutierten noch etwas weiter, wobei es größtenteils um die Natur von verliebten Blicken und die Tatsache ging, dass Lee Commander Lucas’ Tochter war, doch am Ende waren sie sich einig. Niemand von ihnen würde auch nur ein Wort über Neri sagen, außer wenn sie unter sich waren.
Endlich zufrieden und müde nach dem langen und ereignisreichen Tag, drehte sich Jason um und schloß glücklich die Augen. Doch wenn er gewusst hätte, was in diesem Moment auf dem Festland passierte, wäre er nicht mehr so beruhigt gewesen.
Auf dem Schild am Zaun neben dem Wachhaus schien UBRI zu stehen, doch bei näherer Betrachtung zeigte sich, dass UNDERWATER BIOLOGICAL RESEARCH INCORPORATED aufgedruckt war. Und darunter war geschrieben: NUR FÜR AUTORISIERTE PERSONEN.
Hinter dem Zaun stand ein aus weißen Steinen gebauter Gebäudekomplex auf einem Hügel, von wo aus man eine Bucht überblicken konnte und in einem Fenster brannte immer noch Licht.
In diesem Raum ging ein hochgewachsener Mann mit silbernen Haare zu einem Kollegen mit Laborkittel. „Ich kann nicht gerade sagen, dass ich mit den Fortschritten des Projekts zufrieden bin“, sagte der silberhaarige Mann.
„Merkt ihr Leute denn nicht, wie wichtig es für die Zukunft der Firma ist?“
„Natürlich, Doktor Hellegren“, antwortete der andere, „aber es ist schwierig Ergebnisse zu erzielen, wenn unsere Versuchstiere ständig verschwinden.
Und Buckelwale können sich erstaunlich gut bewegen für Kreaturen ihrer Größe.“
„Scheinbar nicht für unsere Gegner auf ORCA.“
Hellegren hob eine Akte von seinem Schreibtisch auf und winkte ihm damit zu. „Dies ist ein Bericht einer Dr. Bates aus einem ihrer Labors für Meeresbiologie“, sagte er. „Wenn man ihr glauben schenken mag, haben sie nicht nur ein Versuchstier markiert, sondern machen bereits kontinuiertlich qualitativ hochwertige Aufnahmen seiner Gesänge und Hirnmuster.“
„Aber… woher haben sie diese Akte?“ fragte der andere Mann.
„Durch einen kostspieligen, aber guten Handel, glauben sie mir. Und ohne, dass sie es mitbekommen haben. Das Problem ist, dass sie uns bereits weit voraus sind. Wenn es einen Weg gibt, mit Walen zu kommunizieren, werden sie ihn Jahre vor uns herausfinden, wenn wir weiter bei diesem Tempo arbeiten.“
„Tja, natürlich, wenn wir deren Mittel hätten… “
„Wir brauchen deren Mittel nicht, Johannson“, unterbrach Hellegren ihn kühl, „wir brauchen ihre aktuellen Forschungsergebnisse.“
Er warf die Akte hin. „Diese Informationen sind bereits mehrere Wochen alt. Wir müssen aufholen und dann mit ihnen Schritt halten.“
„Ich wüßte nicht, wie das möglich wäre.“
„Ich schon. Ich arrangiert gerade, dass jemand für uns auf ORCA arbeitet. Man wird Kopieen von Dr. Bates Aufzeichnungen machen und sie rausschmuggeln. Mit schnellen Kopiergeräten sollte es nicht allzuviel unserer Zeit in Anspruch nehmen, alles zu duplizieren, was sie bis heute herausgefunden haben. Danach beschränkt sich das ganze darauf, dass wir jeweils die Tagesergebnisse zugeschickt bekommen.“
Er lehnte sich in seinen Sessel zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. „Und dann, mein Freund, wird niemals mehr jemand etwas über diesen Wal herausfinden, ohne dass wir es zur gleichen Zeit nicht auch erfahren.“ Er grinste und bleckte seine Zähne.