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This document is part of the Ocean Girl Archive — Last update: 2009-02-15 — sourcemeta

Author:Peter Hepworth
Published:1994-01-01
Archived:2008-05-08

9. An Bord

„Wir werden eine Uniform und eine ID-Karte für sie brauchen“, sagte Jason leise zu Brett beim Frühstück.

„Wir lange haben wir Zeit?“

„Um die achtundvierzig Stunden. Ich habe ihr gesagt, sie soll von heute ab in zwei Tagen hier sein.“

„Du hast uns nicht gerade viel Zeit gegeben.“

„Hör mal, das war alles, was ich tun konnte, um sie für so lange zu beruhigen.“

„Gut“, sagte Brett, „aber wir sollten uns besser schnell auf die Socken machen. Du kümmerst dich um die Uniform. Lass’ die Karte meine Sorge sein. Ich habe schon eine Idee.“ Ein freches kleines Grinsen breitete sich über seinem Gesicht aus.


„Eine ID-Karte fälschen?“ fagte Froggy. „Das muss ein Witz sein.“

„Hey, das ist cool“, antwortete Brett. „Ich habe gewusst, dass du es nicht kannst.“

Das konnte Froggy nicht auf sich sitzen lassen. „Ich könnte es bei einem Handstand tun. Aber für was in der Welt brauchst du eine falsche Identität?“

„Ich nicht. Es haben eben nur einige der Kinder gesagt, du könntest mit einem Computer alles machen und ich habe dagegen gewettet, du könntest es nicht.“

„Tja, da hast du schon verloren. Wäre eine leichte Übung.“

Brett nahm einen Atemzug und blickte nachdenklich.

„Das sagt sich leicht, Froggy, und ich persönlich würde dich auch nicht anzweifeln. Trotzdem würde ich es ziemlich gerne selbst sehen, bevor ich bezahlen muss.“

„Abgemacht. Wir sehen uns nach der Schule im Klassenraum und ich werde es beweisen. Hast du irgendwelche Computerkarten?“

„Tja, ich habe da die Spiele von meinem Virtual-Reality-Helm.“

„Perfekt. Aber such’ dir eins aus, das du nicht mehr brauchst, weil ich den Code ändern werde, wie das eben so ist.“

„Macht nichts, Frog“, sagte Brett fröhlich. „Ich werde da sein.“


Jason wusste, wann die richtige Zeit war, um den Wäschereikomplex zu betreten. Der gesamte Reinigungsvorgang lief automatisch ab. Schmutzige Uniformen wurden auf der einen Seite eingefahren, einem Waschgang mit Ultraschall unterzogen und wurden sauber wieder am anderen Ende auf Ständer gehängt. Die einzige Aufgaben, die hier von Menschen erledigt werden mussten, war es, die Ständer zu be- und entladen. Daher war die gesamte Mannschaft um die Mittagessenszeit in der Kantine und der Raum war verlassen.

„Jemand hier?“ rief Jason als er den Raum betrat. Er wartete. Wie er gehofft hatte, gab es keine Antwort, so das er seine Aufgabe in Angriff nahm.

Er lief zu den Ständern mit den sauberen Uniformen. Die meisten waren dunkelblau, obwohl es auch einige in einer helleren Schattierung gab, die erst seit kurzer Zeit im Umlauf waren. Jason ging sie durch und hielt seine Hände auf die Ebene, die er als Neri’s Schulterhöhe schätzte und schaute nach etwas, das ungefähr die richtige Größe hatte.

Ihm kam es wie eine Ewigkeit, in der er nichts fand. Wenn die Höhe richtig war, war die Breite drei mal zu groß. Wenn die Form für Neri’s schlanken Körper dünn genug schien, war der Besitzer scheinbar ein Zwerg. Während er so mit der Suche weitermachte, begann Jason sich zu fragen, ob wohl der Großteil von ORCA von Mutationen besetzt war. Dann fand er eine der neueren Uniformen. Sie hatte einen kleinen Riß im verschlüsselten Etikett auf dem Rücken, das den Eigentümer angab, doch sie schien die perfekte Größe zu haben. Jason nahm sie vom Ständer und hielt es gegen sich selbst vor einem Spiegel neben ihm, um es zur Sicherheit noch mal zu beurteilen.

In diesem Moment kam ein Mann mit einer Lieferung von verschmutzten Uniformen durch die Tür. Jason war wie versteinert. Der Mann schaute Jason an, der scheinbar eine Mädchenuniform ausprobierte, zog die Augenbrauen hoch und ging ohne Kommentar wieder raus.

Jason wurde bis über beide Ohren rot. Dann steckte er die Uniform unter seinen Arm, nahm ein Paar passender Schuhe aus der Reinigungsmaschine und machte sich aus dem Staub.


Froggy drückte die letzte Tastenfolge auf der Computertastatur, wirbelte in seinem Stuhl rum, und hielt die Karte Brett vor die Nase.

Brett betrachtete sie kritisch. „Willst du mir etwa erzählen, dass HELEN das wirklich akzeptieren würde?“

Froggy grinste gerissen. „Nicht nur das. Sie wird wahrscheinlich sogar sagen ’Vielen Dank, Mr. Duck.’“

„Was?“

„Tja, ich musste einen Namen angeben“, erklärte Froggy, „also habe ich Donald Duck genommen. Wen interessiert es? Es wird sie doch niemand benutzen, oder?“

„Ja, richtig“, stimmte Brett schnell zu.

„Gut, dann machen wir jetzt den Abschlußtest.“ Froggy nahm ihm die Karte wieder ab, steckte sie in einen Schlitz in der Hauptkonsole des Schulraums, und folgende Worte erschienen auf dem Bildschirm: SICHERHEITSFREIGABE.

Froggy zog die Karte wieder raus und winkte damit zufrieden in der Luft herum. „Da hast du sie“, sagte er, „eine leichte Übung.“

„Lass mich nur noch einen Blick darauf werden“, bat Brett.

„Gut, aber danach wirfst du es in die Müllentsorgung. Ich will nicht, dass sie jemand findet.“

Brett drehte sich um und ging weg. Er hatte ein Stück Pappe von der Verpackung eines Schokoladenriegels in seiner Hand zur Bereitschaft versteckt.

Diese warf er in die er in den Entsorgungsschacht, der daraufhin summte und sie zustückelte. Er steckte die Karte in seine Tasche.

„Danke, Froggy“, sagte er, als er hinausging. „Du weißt nicht, was für einen Gefallen du mir getan gast.“

Aber Froggy war schon so sehr mit einem neuen Problem mit HELEN beschäftigt, dass er nicht einmal mehr eine Antwort gab.


Die hellblaue Uniform und die Schuhe lagen auf Jasons Bett.

„Ich hoffe, das stellt dich zufrieden, denn ich werde das nicht ein zweites mal machen“, sagte er. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie peinlich das war.“

„Denkst du etwa, du hättest die schwierigere Aufgabe gehabt?“ erwiderte Brett. „Du weißt doch, dass man Froggy nicht leicht reinlegen kann.“

Dann grinste er selbstgefällig, zog die Karte aus seiner Tasche und winkte damit. „Ich habe es aber geschaft.“

Jason nahm die Karte und verglich sie mit seiner eigene. „Wirklich toll“, fand er. „Man sieht keinen Unterschied.“

„Trotzdem ist es nur eine Tageskarte“, deutete Brett an, „also merk’ dir, was auch immer passiert, sie muss hier um 18:00 Uhr weg sein. Andernfalls wird HELEN fragen stellen.“

Jason fand eine passende Hülle, steckte die Karte hinein und hängte sie an die Uniform. Alles sah perfekt aus. Als er wieder aufschaute, sah er, dass Brett ein Stück Paper in seiner Hand hielt.

„Was ist das?“

„Noch eine von meinen brillianten Ideen. Wir wollen, doch dass es ihr wirklich keinen Spaß macht, richtig? Also habe ich eine Liste der langweiligsten Plätze gemacht, zu denen wir sie führen können.“

Er begann vorzulesen. „Müllverwertung… Entsalzungsanlage … Zentrum der Klimaanlage… Kontrollraum des Kraftwerks … “

Jason schaute ihm über die Schulter auf die Liste und gluckste. „Sie wird sich wünschen, sie sei nie hierhergekommen.“

„Hör mal“, sagte Brett selbstsicher, „in zehn Minuten wird sie darum betteln, dass sie wieder weg darf.“

Eine Sache musste noch erledigt werden. Sie legten die Uniform und die Schuhe in einen Fischerkorb und brachten sie durch den Hauptlift hoch zur Plattform. Nachdem sie sichergestellt hattem, dass sie nicht beobachtet wurden, ging Jason den Weg zu einem der vielen metallenen Ausrüstungskisten, die in gleichmäßigen Abständen am Aufbau befestigt waren.

„Mir ist aufgefallen, dass nie eine davon benutzt wird“, sagte er, „Sie ist nur voller alter Bootabdeckungen und solchen Sachen.“

Er öffnete den Deckel und verstaute die Kleider unter einer Schicht von Segeltüchern. „Tja, fertig“, sagte er, als er den Deckel wieder schloss. „Jetzt sind wir auf alles vorbereitet. Alles unter Kontrolle.“


Vanessa war im Wäschereiraum rasend vor Wut. „Irgendein Trottel hat meine Uniform geklaut!“ wetterte sie.

„Aber Vanessa“, sagte Jodie vorsichtig, „du hast sie doch gerade an.“

„Ich meine doch nicht dieses alte Ding, Idiot. Ich hatte gerade eine von den neuen bekommen. Mein Vater musste seine Beziehungen spielen lassen, damit ich an die Spitze der Liste gekommen bin.“

„Ich habe dich noch nie damit gesehen.“

„Ich habe sie ja auch noch nicht getragen! Sie haben mir gesagt, man soll sie zuerst waschen, um das Gewebe weicher zu machen. Und jetzt hat irgendeine Kuh sich das Ding unter den Nagel gerissen.“

„Vielleicht hat jemand anders sie verwechelt?“

„Red’ keinen Blödsinn. Mein Schild war hinten dran. Da gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder sie ist gestohlen worden oder das ist eine Vorstellung irgend eines kranken Kopfes von einem Witz.“ Ihre Augen blinzelten. „Wie auch immer“, versprach sie sich, „irgendjemandem wird das hier noch leid tun.“


Jason und Brett fühlten sich selbstzufrieden, als sie in Moms Labor schlenderten. Sie fanden, dieser Raum sei wie ein geschäftiges Bienennest. Überall auf dem Boden lagen Kisten und ein junger Mann half Winston, einen Stapel merkwürdig aussehender Geräte auszupacken.

„Hi Winston“, sagte Brett.

„Hallo Jungs. Oh“, fügte er hinzu und zeigte auf den jungen Mann, „Das ist Billy Neilson von der Computerabteilung.“

Billy nickte ihnen zu und fuhr dann mit seiner Arbeit fort.

„Was ist denn das für ein Zeug?“ Jason deutete auf die Geräte.

„Das? Das ist ein Bildsynthesizer, wer weiß das nicht?“

„Ein was?“

„Bildsysthesizer“, kam ein Echo von Dianne, die gerade Aufzeichnungen von Walgesängen verglichen hatte. „Das ist alles noch sehr experimentell im Moment, aber es soll Töne analysieren und ein Bild zusammenstellen von der Kreatur, die sie von sich gibt.“

„Du meinst, dass wenn ich Löwengebrüll gehört hätte, würde mir das Ding das Bild eines Löwen ausgeben?“

„Tja, das stimmt zwar nicht so ganz, aber es ist die grundsätzliche Idee.“

„Wofür werdet ihr es benutzen?“ fragte Jason und fürchtete, dass er die Antwort bereits wusste.

„Tja, wir haben uns entschlossen, dass wir gerne mehr über den kleinen Freund unseres Wals wissen wollen und wir hoffen, dass uns das hier ein paar Anhaltspunkte gibt. Vielleicht genug, um erraten zu können, was es ist.“

Einige Minuten später gingen Jason und Brett zur Kantine.

„Du glaubst doch nicht etwa, dass so etwas wirklich funktionieren könnte, oder?“ fragte Brett.

„Ich weiß nicht“, antwortete Jason. „Sie hat gesagt, es sei nur sehr experimentell. Trotzdem haben wir genug, worüber wir uns Sorgen machen müssen, so wie es ist.“


Zwei Tage später ging die Sonne gerade auf, als Jason und Brett zitternd auf der Platform standen und auf das Meer starrten.

Brett entdeckte Charley als erster. Er war ziemlich weit entfernt, doch sogar über diese Entfernung konnten sie den riesigen Wasserschwall ansmachen, der aus dem Atemloch kam, als er zur Oberfläche auftauchte.

„Oh Gott, du denkst doch nicht etwa, dass sie ihn mitbringt, oder?“ fragte Brett entsetzt. „Das wird sicher ein Spass, wenn wir versuchen, ihn in den Aufzug zu stopfen!“

In diesem Moment machte Charley kehrt. Er zog langsam und anmutig mit einem leichten Schlag seiner Schwanzflosse einen Bogen im Wasser, tauchte wieder weg und war verschwunden.

Neri kam direkt vor ihren Füßen an die Oberfläche. „Hallo. Hier bin ich“, sagte sie mit einem aufgeregten Lächeln.

„Einen Augenblick noch“, murmelte Jason. Er prüfte ein letztes Mal um sicherzustellen, dass niemand in der Nähe war. „Gut. Hoch mit dir.“

Sie kletterte die Leiter mit Leichtigkeit hoch und stellte sich triefend vor Nässe vor sie. „Jetzt zeigt ihr mir ORCA“, verlangte sie.

„Du kannst so nicht reingehen. Du brauchst zuerst ein anderes Outfit.“

Jason führte sie zur Ausrüstungskiste und zog die Uniform und die Schuhe heraus. „Schell, zieh das an. Wir werden deine eigenen Kleider hier reinlegen und du kannst sie holen, wenn du wieder gehst.“

Neri nickte und fing an, ihr Kleid über den Kopf zu ziehen. Jasons wurde rot im Gesicht und Brett griff schnell ein.

„Oh… Es wäre eine gute Idee, wenn du das hinter der Ausrüstungskiste machen würdest.“

Neri schaute verwirrt, ging aber hinter die Box und tauschte die Kleider aus. Als sie wieder zum Vorschein kam, beschwerte sie sich bitterlich über die Schuhe an ihren Füßen.

„Muss ich die anhaben?“ fragte sie. „Sie tun weh.“ Sie rutschte unbequem in ihnen hin und her.

„Ja“, sagte Jason und fügte hoffnungsvoll hinzu, „es sei denn du hast dich inzwischen anders entschieden?“

Neri schüttelte den Kopf. Mit einem Seufzer führte Jason sie den Weg zum Aufzug. Neri stampfte hinter ihm, die ungewohnten Schuhe zwangen sie zu einem merkwürdigen, steifen Gang.

Sie sieht aus, als hätte sie in jedem Hosenbein einen Besenstiel, dachte Brett als er sich ihnen anschloss.

„Es scheint sich eine unautorisierte Person im Aufzug zu befinden“, sagte die Stimme von HELEN. „Bitte identifizieren sie sich.“

Neri sprang auf, schaute sich vorsichtig um und suchte nach der Herkunft der Stimme.

Jason fischte die ID-Karte mit seinen Fingern aus ihrer Uniform und hielt sie auf das Sensorfeld.

SICHERHEITSFREIGABE erschien auf dem Bildschirm.

„Vielen Dank“, antwortete HELEN. „Willkommen auf ORCA, Mr. Duck.“

„Woah“, rief Neri entzückt als der Aufzug anfing zu summen und nach unten zu fahren begann.


„Das war toll. Können wir das nochmal machen?“ fragte Neri, als sie unten angekommen waren und sich die Türen des Aufzuges öffneten.

„Nein“, sagte Brett.

„Komm jetzt.“ Jason nahm sie am Arm. „Wollen wir’s hinter uns bringen.“

Als sie den Rezeptionsbereich betraten hielt Neri inne. Sie stand da mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen und starrte auf die Fülle von unvertrauten Bildern und Geräuschen. Brett nahm sie am anderen Arm und sie schoben sie von beiden Seiten in Richtung der Korridore. Jeder zweite runzelte die Stirn bei dem Anblick des Mädchens mit dem merkwürdigen Gang, doch sie schafften es sicher durch die Rezeption und bewegten sich weiter in Richtung des Kerns von ORCA.


Als Dianne im Labor ankam, fand sie Winston, wie er auf den Bildschirm starrte. Er blickte auf, als sie näher kam. „Sie hätten in der letzten viertel Stunde hier sein müssen. Sie haben etwas ziemlich seltsames verpasst.“

„Ja?“

„Ich habe die Geräte eingeschaltet und plötzlich war der Wal da, direkt vor unserer Türschwelle. Viel näher, als er sich je zuvor gewagt hat.“

„Vielleicht wächst seine Neugierde auf uns. Haben sie die Aufnahmegeräte eingeschaltet?“

„Natürlich. Und er hat gesungen. Aber es war noch eine andere merkwürdige Sache. Für meine Ohren klang es nicht wie eines seiner neugierigen Lieder. Es war eher eines von denen, die sie als Abschied nehmen interpretiert haben.“

Sie runzelte die Stirn und begann, sich in Richtung der Rekorder zu bewegen.

„Die weise Eule hört sich erst alles an, bevor sie wegfliegt.“ zitierte Winston und hielt sie zurück.

Sie schaute irritiert. „Woher aus aller Welt haben sie diese Sprichwörter, Winston?“

„Das stand eigentlich in einem Glückskeks“, gab Winston zu, „Aber ich versuche ihnen klar zu machen, dass ich noch nicht fertig bin. Sein kleiner Freund war bei ihm.“

„Und?“

„Der Wal drehte sich um, doch der kleine Leuchtpunkt schwamm weiter auf uns zu. Tatsache ist, dass er direkt vor unserer Haustür aufzutauchen schien, wenn man das mal so ausdrücken darf. Und dann ist er vom Bildschirm verschwunden.“

„Sie meinen, es hat den Mindestabstand zu unseren Geräten unterschritten?“

Winston nickte. „Was bedeutet, dass es irgendwo direkt über uns sein muss.“

„Ja was stehen sie dann noch hier rum?“ sagte sie drängend und schnappte sich ein Fernglas. „Wir gehn hoch und schauen uns an, was es ist!“

Sie verbrachten die nächste Stunde oben auf der Plattform und suchten das Wasser um sie herum nach einem Lebenszeichen ab, sahen jedoch nichts.


Währenddessen war es nicht ganz so gelaufen, wie die Jungen es sich vorgestellt hatten. Neri war alles andere als gelangweilt vom Kraftwerk, sie war eher hypnotisiert. Sie starrte verwundert auf die riesigen Rohre, durch die das Wasser sich mit dem Strom der Gezeiten bewegte und Hydroelekrizität herstellte. Schließlich drückte sie ihr Ohr sanft an ein Rohr und hörchte. Ein Lächeln kam über ihr Gesicht.

„Es ist wunderschön“, sagte sie ehrfürchtig. „Es singt wie das Meer.“

Jason und Brett tauschten einen besorgten Blick aus und brachten sie schnell weiter. Zu ihrem Schrecken jedoch schien sich Neris Interesse und Aufregung mit jeder vergangenen Minute nur zu vergrößern. In der Zentrale der Klimaanlage tanzte sie wegen der sich ständig bewegenden Luft herum und rühmte die Wärme der ’Winde’. In der Entsalzunsanlage war sie fasziniert von den schwachen Beleuchtung und versuchte immer wieder, die ’kleinen Feuer’ auszublasen. Bei der Müllverwertungsdeponie musste ihr ausgeredet werden, in die riesigen Behandlungstanks zu tauchen, die bis oben hin mit dampfendem Abwasser gefüllt waren.

Als sie wieder den Korridor betraten, kamen gerade Froggy und Zoe entgegen.

„Hi, Jungs“, grüßte Froggy sie. „Kommt ihr mit in die Kantine?“

„Es ist ein bisschen früh, oder?“ fragte Brett.

„Nicht für mich. Ich sterbe vor Hunger.“

Jason bemerkte den prüfenden Blick Zoes auf das merkwürdige Mädchen neben ihnen. Besser nichts sagen, entschied er sich.

„Wir — tja — sehen uns dann dort“, sagte er und Froggy und Zoe gingen weg.

„Warum stirbt er? Kriegt er nichts zu essen?“ fragte Neri ängstlich.

„Ja, allerdings“, sagte Brett. „Es ist bald Zeit zum Mittagessen, das ist alles.“

„Vielleicht Zeit für dich zurückzuschwimmen, Neri“, schlug Jason vor.

„Nein. Ich will sehen, wie ihr lebt.“

Jason wurde bleich. „Das würde dir nicht gefallen. Es ist wirklich nicht interessant.“

Neri wandte ihre Bitte an Brett. „Aber ich will es. Ich will sehen, wie meine Freunde leben. Ich habe euch mein Zuhause gezeigt“, betonte sie und schaute sie beide still mit einem bittenden Blick an.

Jason seufzte und führte sie hin.


Neri stand in der Kabine und drehte sich langsam, um alles sehen zu können. „Es ist wundervoll“, fand sie schließlich.

„Was? Das muss ein Witz sein“, sagte Jason.

„So bequem“, entgegnete sie. Sie schaute prüfend auf die Dusche und runzelte die Stirn, als sie die Toilette sah. „Aber nicht dieser Stuhl. Dieser Stuhl sieht nicht sehr bequem aus.“

„Das ist kein echter Stuhl“, sagte Jason mit Unbehagen.

„Was ist es dann?“

„Tja, es ist… also… “

Brett versuchte, ihm zu helfen. „Du sitzt da drauf, wenn… du … äh… “

Jason wechselte das Thema, indem er eine Taste auf der Kontroll-Tastatur drückte. „Das ist die Dusche“, sagte er. Neri lächelte vergnügt, als Wasser herauszuspritzte.

„Es regnet innen!“ rief sie ungläubig. Dann suchte sie nach weiteren Wundern. „Was ist da drin?“

„Das ist nur Mom’s Schlafzimmer.“

„Das gehört Mutter? Das muss ich sehen.“ Bevor sie aufgehalten werden konnten, war sie schon durch die Tür geschlüpft.

Sie umkreiste den kleinen Tisch, auf dem Moms Kostmetiksachen standen. „Hübsche Sachen“, murmelte sie während sie einen näheren Blick darauf warf. Als sie nach oben schaute, bemerkte sie ihr Spiegelbild. Einen Moment lang war sie wie versteinert, doch dann lächelte sie. „Das bin ich. Wie in einer Pfütze.“

„Man nennt es Spiegel“, erklärte Jason, aber Neri hörte gar nicht zu. Sie nahm eine kleine Flasche vom Tisch und untersuchte sie.

„Drinken?“ fragte sie.

„Nein, Parfüm. Es riecht gut. Frauen sprühen es auf sich.“

„Wie?“

Brett zeigte auf den Knopf am Verschluss. Neri drückte sofort drauf und vernebelte ihn mit Parfüm.

„Nicht so viel“, sagte Jason. „Das ist Moms einziger Luxus.“

Als er es ihr wegnahm, erblickte Neri die eingerahmte Photographie der Jungen mit Mom, die daneben stand. Sie hielt es nah vor die Augen. „Eine sehr gute Zeichnung. Ist das Mutter?“ Sie zeigte mit dem Finger darauf.

„Ja.“

„Wirklich schön“, sagte sie leise.

„Los jetzt, beeilt euch, raus hier“, unterbrach Jason sie, „sonst verdächtigt Mom uns noch, dass jemand hier drin war.“

„Ja“, willigte Neri ein, „ich bin jetzt hungrig. Nehmt mich dorthin mit, wo der sterbende Junge hingegangen ist.“

„Nein, das wäre keine gute Idee.“

Neri warf Jason einen verletzten Blick zu. „Du willst nicht dein Essen mit mir teilen? Ich habe auch mein ganzes mit euch geteilt.“

„Das verstehst du nicht. Das könnte problematisch werden.“

„Ich verstehe schon“, sagte Neri entschieden. „Ihr schämt euch vor euren Freunden, mich mit euch zusammen zu sehen.“

Jason stöhnte. Das wurde ja mit jeder Minute komplizierter.

„Jace“, winkte Brett ihn zu sich und sprach leise. „Wenn sie den ganzen Tag hierbleiben will, können wir sie nicht ohne etwas zu Essen lassen.“

„Willst du sie etwa mit den ganzen Kindern zusammentreffen lassen?“

„Hey, wir sind schon so weit bisher gekommen, oder? Niemand würde etwas bemerken. Wir nehmen eine Tisch für uns alleine und wir wären wieder draußen, bevor sie etwas mitkriegen.“

Es war nicht in seinem Sinn, aber der der verletzte Blick in Neris Gesicht ließ Jason schließlich zustimmen. „Gut, wir werden dich mit in die Kantine nehmen“, sagte er widerwillig, „aber du musst so schweigsam wie möglich bleiben. Lass einfach uns Reden. Du musst nur allem zustimmen, was wir sagen, gut?“

Neri nickte begeistert.

Als sie hinausmarschierten, flüsterte Jason in Bretts Ohr. „Merk dir, das war nicht meine Idee. Ich kann nur hoffen, dass wir da nicht einen großen Fehler machen!“